Das Kaleidoskop des Trauerns: Trauertheorie zum Anfassen!

Das ganzheitliche Modell des „TrauerKaleidoskops“ integriert die wesentlichen Theorieansätze, die in den vergangenen Jahrzehnten rund um den Globus zum Thema Trauer entstanden sind. Trauern wird als Prozess definiert, der verschiedene Bereiche des menschlichen Lebens berührt. Die Bereiche des Lebens, die von einem Verlust beeinflusst werden, nenne ich „Facetten des Trauerns“.

Jeder der 6 Facetten sind ein Begriff und eine Farbe zugeordnet. So ist zum Beispiel die Facette der vielen unterschiedlichen „Gefühle“ knallrosa. Die Trauerfacette „Verbunden bleiben“ ist strahlend gelb, da sie für viele Trauernde die hoffungsvollste TrauerFacette ist. Für Trauernde und auch für Begleitende ist diese Visualisierung ein hilfreicher Anker im erlebten Auf und Ab eines Trauerweges.

Im bewussten Gegensatz zu Trauermodellen, die aufeinanderfolgende Phasen oder Stationen eines Trauerweges annehmen, geht das TrauerKaleidoskop von einer anderen Voraussetzung aus. Wie in einem Kaleidoskop sind alle Facetten des Trauerweges stets gemeinsam vorhanden – aber sie sind nicht alle gleich sichtbar. Sie mischen sich beweglich zu immer neuen, sich gegenseitig behindernden oder unterstützenden Strukturen.

Zur Verdeutlichung nutzen Sie bitte die Animation: Klicken Sie auf eine der bunten Trauerfacetten und erleben Sie, wie das Gesamtbild sich ändert. Die gezeigten Muster sind nur Beispiele! Sehen Sie einmal durch ein echtes Kaleidoskop und beobachten Sie, wie die einzelnen Teile sich gegenseitig verdecken können – ohne dass eine der Farben jemals aus dem Kaleidoskop verschwindet.

Das TrauerKaleidoskop

Bitte klicken Sie auf eine bunte Facette und sehen Sie, wie die Struktur der Facetten sich ändert. Im Text auf der rechten Seite lesen Sie eine kurze Beschreibung der TrauerFacette, die im Vordergrund steht.

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Überleben
Wirklichkeit
Gefühle
Sich anpassen
Verbunden bleiben
Einordnen

Hier finden Sie weiter Erläuterungen zur Entwicklung des TrauerKaleidoskops und zu den einzelnen TrauerFacetten: https://www.youtube.com/playlist?list=PLXAE05je3CXF6kjzD9Ev7hDwpaE4suJXJ

Trauerwege sind anstrengend, unvorhersehbar und ganz individuell. Doch auf allen Trauerwegen setzen sich Menschen mit intensiven Gefühlen auseinander: Schmerz, Sehnsucht und Ohnmacht, aber auch Dankbarkeit und Liebe. Die Trauernden gestalten ihren veränderten Alltag neu, suchen Antworten auf das „Warum?“ eines Todes und beschäftigen sich mit dem Sinn des eigenen Weiterlebens.
Chris Paul, eine der renommiertesten Trauerbegleiterinnen Deutschlands, präsentiert einen ganz neuen Ansatz: Ihr Kaleidoskop des Trauerns bietet ein lebensnahes, leicht verständliches Bild, in dem sich Trauernde auf ihren Trauerwegen erkennen können. Sie zeigt viele unterschiedliche Reaktionen und Gestaltungsmöglichkeiten eines Trauerweges. Die möglichen Stolpersteine werden anschaulich beschrieben und ihre Bewältigung kann mit den vielen alltagstauglichen Ideen zur Unterstützung gelingen.

Überleben

Dieser Facette habe ich die Farbe Orange zugeordnet. Leuchtend und schrill wie eine Warnweste. Denn Überleben ist etwas anderes, als es sich gut gehen zu lassen. Überleben ist eine rohe, simple Angelegenheit. Man atmet weiter und übersteht den Tag und die Nacht und den nächsten Tag. Jeder von uns macht das anders. Alles Fühlen, Erinnern und Sprechen ist diesem Anliegen untergeordnet. Überleben hat Vorrang und Überleben ist immer wieder dran zum Kraftschöpfen und zum Ausruhen von den Anstrengungen der anderen Trauerfacetten. Hier eine unvollständige Liste der Möglichkeiten, die wir nutzen, um etwas Erschreckendes zu überstehen: Ablenken, laute Musik, Fernsehen, Alkohol, Internet. Sich in Arbeit stürzen. Alles so machen wie zuvor. Reden wie ein Wasserfall. Verstummen. Nähe suchen. Sich zurückziehen. Einschlafen. Innerlich abschalten. Ganz viel Sport. Raus in die Natur. An Schönes denken. Aggressiv werden. Beten oder Meditieren. Pflichtbewusst sein. Für andere da sein. Weglaufen. In der Vergangenheit leben. Die Vergangenheit abstreiten. Vieles von dem, was Ihnen an Ihrem eigenen Verhalten seltsam und unvernünftig erscheint, ist eine Überlebensstrategie. Das gilt auch für das Verhalten der Menschen um Sie herum.

Einordnen

Dieser Facette habe ich die Farbe Blau zugeordnet, Blau wie der Himmel über uns, der so selbstverständlich ist, dass wir ihn oft gar nicht mehr bemerken. Genauso wenig achten wir im Alltag auch darauf, welche Gedanken wir denken, und darum geht es hier. Trauerprozesse bringen nicht nur intensive Gefühle mit sich, sondern sie bewirken auch in unserem Gehirn Höchstleistungen! Jede „Warum?“-Frage, jede Suche nach neuem Lebenssinn ist eine Denkaufgabe. Trauernde versuchen einzuordnen und zu bewerten, was ihnen zugestoßen ist. Der Tod eines nahen Menschen und die eigene Reaktion darauf stellt alle bisherigen Grundüberzeugungen in Frage: Stimmt das so noch? Oder muss das jetzt alles noch mal neu interpretiert und geordnet werden? Bin ich das Glückskind, die starke Frau, der gute Mensch, für den ich mich immer gehalten habe? Ist die Welt wirklich gerecht? Habe ich mein Schicksal in der Hand, wie ich immer dachte? Heilt Liebe doch nicht alle Verletzungen und Krankheiten? Manchmal bestätigt ein Sterben frühere Erfahrungen und tiefe Ängste. Manchmal widerspricht es dem Optimismus, der bisher stets getragen hat. Die Neubewertung der Vergangenheit färbt den Blick auf die Gegenwart und hat dann auch Auswirkungen auf die Zukunft. Je düsterer und hoffnungsloser die Interpretation des eigenen Lebens in der Vergangenheit ausfällt, desto weniger Freude und Zufriedenheit sind für die Zukunft denkbar. Umgekehrt sind Vergangenheitsdeutungen, die Freude und Leid nebeneinanderstehen lassen können, ein guter Ausgangspunkt für wachsende Lebensfreude.

Sich anpassen

Dieser Facette habe ich die Farbe Grün zugeordnet, weil es um uns herum immer etwas Grünes gibt, und hier geht es um alles, was außerhalb der eigenen Gedanken stattfindet. Nach dem Tod eines nahen Menschen ändert sich das eigene Leben – manchmal bleibt keine Minute des Alltags, wie sie vorher war. An diese Veränderungen müssen Trauernde sich anpassen. Sie sind gezwungen neue Wege zu finden, mit sich selbst und dem Leben umzugehen. Diese Veränderungen betreffen das Zuhause und den Alltagsablauf. Sie betreffen auch die Rollen und Aufgaben, die man in einer Familie oder Partnerschaft übernimmt. Veränderungen, an die Trauernde sich anpassen müssen, betreffen auch die Reaktionen aller Menschen, denen man begegnet, z. B. in der Nachbarschaft, im Kollegenkreis, in der Lerngruppe oder im Fitnessstudio. Man muss damit umgehen, dass manche Menschen nicht mehr grüßen und andere mit ungebetenen Ratschlägen reagieren. Es kostet Kraft, sich im veränderten Leben zurechtzufinden und neue Rollen und Verhaltensweisen auszuprobieren.

Wirklichkeit begreifen

Dieser Facette habe ich die Farbe Dunkelgrau zugeordnet, weil es sich so unerträglich dunkel und bedrückend anfühlen kann, wenn man begreift, dass ein geliebter Mensch „wirklich“ tot ist. Es fällt schwer zu verstehen, dass jemand gestorben ist und was das eigentlich bedeutet. Die Möglichkeit, den Sterbenden und dann den Verstorbenen sehen und berühren zu können, hilft dabei. Dieses buchstäbliche „Be-greifen“ am Sterbebett, bei einer Totenwache oder beim Abschiednehmen unterstützt die Realisierung des Todes. Darüber zu sprechen hilft auch dabei, die Wirklichkeit eines Sterbens zu verstehen. Jedes Mal, wenn klar benannt wird, dass jemand gestorben ist (nicht „gegangen“ oder „eingeschlafen“), wird der Tod ein Stück wirklicher. Die Geschichte des Abschieds erzählen können, von anderen etwas dazu hören, sich austauschen und bestätigen, macht den Abschied wirklicher. Hilfreich beim Realisieren ist auch der Zugang zu den Informationen darüber, woran und wie jemand gestorben ist, so entsteht eine zusammenhängende begreifbare Geschichte. Sterben ist wirklich etwas anderes als Verreisen oder den Kontakt abbrechen. Es ist end-gültig, nicht zurück zu nehmen und für immer. Diese Wirklichkeit des Todes lernt man nur mit jedem Tag, der vergeht. Sterben ist auch deshalb anders als Verreisen, weil es Fragen nach dem „Danach“ aufwirft. Seelenwanderung? Auferstehung? Schwarzes Loch? Wiedergeburt? Das sind Glaubensinhalte und Überzeugungen, aber sie fühlen sich ganz wirklich und wahrhaftig an und Menschen brauchen diese Vorstellungen für ihr „Begreifen der Wirklichkeit eines Todes“.

Gefühle

Dieser Facette habe ich ein kräftiges Rosa zugeordnet, weil die vielen unterschiedlichen Gefühle so intensiv und stark sind, aber auch zart und zärtlich sein können. Trauerprozesse enthalten eine Vielzahl von Gefühlen: Verzweiflung, Wut, Ohnmacht, Schmerz, Erleichterung, Angst, Neid, Dankbarkeit, Sehnsucht, Liebe und viele mehr. Alle diese verwirrenden überwältigenden Gefühle sind wichtig. Auch wenn sie anstrengend sind, die Konzentration für den Alltag rauben und einem selbst peinlich sind – sie helfen, den Verlust zu bewältigen. Jedes Gefühl braucht dafür auch einen Ausdruck, hier einige Beispiele: Traurigkeit, Verzweiflung und auch Sehnsucht können sich in Tränen einen Weg bahnen oder in Rückzug. Wut, Hilflosigkeit und Abwehr äußern sich in Geschrei und Streit oder in Schweigen und Abwendung. Sehnsucht findet z. B. in Grabbesuchen, Trauertagebüchern, dem Gestalten von Erinnerungskisten oder Fotobüchern ihren Ausdruck. Liebe und Dankbarkeit können sich in Erzählungen und Ritualen ausdrücken. Der Seelenschmerz drückt sich oft auch körperlich aus. Manchmal verwandelt sich der Seelenschmerz direkt in Körperschmerz – z. B. in Magenkrämpfe und Kopfschmerzen. Nicht nur das metaphorische Herz, sondern auch das physische Herz fühlt sich dann schwer an und stolpert. Der Seelenschmerz kann sich in Atemnot, Beklemmungen und starkem Frieren ausdrücken. Die inneren Kreisläufe sind oft so durcheinander wie die eigenen Gedanken und Gefühle – Schlafen und Essen finden dann nur mit Mühe in einen vertrauten Rhythmus zurück. Der Körperschmerz braucht den Ausdruck des Seelenschmerzes, um langfristig wieder in den Hintergrund zu treten!

Verbunden bleiben

Dieser Facette habe ich ein leuchtendes Gelb zugeordnet, weil die Verbundenheit mit dem Verstorbenen für viele Trauernde wie ein Sonnenstrahl ist. Menschliche Beziehungen zwischen Lebenden bestehen aus dem Bewusstsein innerer Verbundenheit, aber auch aus Blicken, Berührungen und gemeinsamen Aktivitäten. Nach dem Tod eines Menschen muss man auf alle körpergebundenen Gemeinsamkeiten verzichten und sich mit gedachten und geahnten Bindungsfaktoren begnügen: Erinnerungen und Anekdoten ermöglichen ein Gefühl von Verbundenheit. Träume vom Verstorbenen und die Wahrnehmung von „Zeichen“ schaffen ein Gefühl von innerer Verbindung. Manchmal ist es, als sei der Verstorbene auf eine nicht zu erklärende Weise immer präsent im eigenen Leben, unterstützend und freundlich. Manche empfinden die Verstorbenen wie gute Geister oder Schutzengel, die in entscheidenden Momenten spürbar werden und Rat geben. Verstorbene waren normale Menschen, die Licht- und Schattenseiten hatten. Auf der Suche nach innerer Verbundenheit über den Tod hinaus werden beide Seiten und alle Widersprüche auch einer Beziehung näher erinnert. Denn bedrückende und beängstigende Erfahrungen können ebenso innere Bindungen schaffen wie Beglückendes. In dieser Trauerfacette geht es um das Suchen nach dem, was bleiben soll und dem, was in den Hintergrund treten kann. Früher dachte man, Trauernde müssten sich komplett von den Verstorbenen lösen, um sich den Lebenden zuwenden zu können. Das gilt als überholt. Trauernde, die sich mit ihren Verstorbenen in positiver und stärkender Weise verbunden fühlen, sind offen für das Leben und die Menschen darin.

Hintergründe des TrauerKaleidoskops im Interview

Liebe Frau Paul, Sie sind eine ausgewiesene Trauer-Expertin und bilden selbst Trauerbegleiter aus.
Was genau ist das Kaleidoskop des Trauerns? Warum haben Sie es entwickelt?

Das Kaleidoskop des Trauerns habe ich ursprünglich für meine Fortbildungen entwickelt. Ich konnte damit das eher trockene Thema Trauertheorien anschaulich vermitteln. Das Trauerkaleidoskop enthält die Ansätze und Erkenntnisse von verschiedenen bedeutenden Trauerforschern (William Worden mit seinen 4 Traueraufgaben, Dennis Klass und Roland Kachler mit der bahnbrechenden Erkenntnis über die Normalität von fortgesetzter Verbundenheit zu den Verstorbenen und Robert Neimeyers Ansatz der Sinngebung in und nach einer Lebenskrise, außerdem das duale Prozessmodell von Stroebe/Shut mit seiner Beweglichkeit im Trauerprozess). Ich selbst habe die Trauerfacette Überleben hinzugefügt, nachdem ich mich viel mit dem Thema Trauma beschäftigt hatte. Im Lauf der Jahre wurde meine Sicht auf die einzelnen Trauererfahrungen verschieden von der Definition der Autoren, die sie mir ursprünglich beigebracht hatten. So ist dieses Unterrichtswerkzeug immer mehr zu einem/meinem eigenständigen System geworden, Trauererfahrungen zu erklären.

Trauer ist Veränderung

Ich begann, es in Trauerseminaren und in der Einzelbegleitung einzusetzen und auch meine FortbildungsteilnehmerInnen erzählten begeistert, wie sie damit Gruppenstunden gestalteten. Zu Anfang war es einfach ein statisches Bild, doch dann schnitt ich die einzelnen Facetten aus und legte sie auseinander, unter- und übereinander. Plötzlich wurde sichtbar, dass sich die verschiedenen Erfahrungen eines Trauerweges ständig gegeneinander verschieben, wie die Glassteinchen in einem Kaleidoskop, mit dem man als Kind gespielt hat. Mal überdeckt eine Facette alle anderen, dann wieder ergänzen sie sich harmonisch. Diese Beweglichkeit entspricht meiner Sicht auf Trauerprozesse, sie sind Wege, lange und oft anstrengende Wege, in denen sich immer wieder etwas verändert. Die Facetten des Trauerkaleidoskops sind dabei fast das Gegenteil der bekannten Trauerphasen. Trauerfacetten sind keine Stufen, die man nacheinander abarbeitet. Vielmehr zeigen sie Themen und Herausforderungen, die sich gegenseitig beeinflussen und über lange Zeiträume immer wieder auftauchen. Man kann sich vorstellen, dass jeder einzelne Trauerweg seine eigene Wegführung über die Trauerfacetten findet, vielleicht eine Spirale, vielleicht ein Labyrinth. Ein Trauerweg ist niemals ein gradliniger Weg, auf dem man nach einigen Wochen oder Monaten über die Ziellinie läuft und für immer fertig ist mit dem Trauern.

Was hat sich durch die Überarbeitung der Bücher verändert?

Beide Bücher habe ich um Hinweise auf Abschied und Trauer in der Corona-Zeit ergänzt. Die Kontakbeschränkungen haben ja die Begleitung von Sterbenden, die Abschiednahme und die Möglichkeiten, gemeinsam zu trauern sehr stark eingeschränkt. Es gibt noch mehr Übungen als zuvor, die auch besser gekennzeichnet sind. Trauernde werden jetzt angeregt, sich z.B. eine Mappe anlegen und das, was sie angeleitet durch die jeweilige Übung schreiben oder phantasieren, dort sammeln.

Internetressourcen

Alle Übungen gibt es jetzt zum Download auf dieser Homepage, so dass Traerunde, aber auch Trauerbegleitende Sie einfacher handhaben können. Weil für viele Menschen das Zusehen anregender ist, als das lesen, habe ich einen YouTube-Kanal eingerichtet, auf dem sich schon jetzt zahlreiche Videos rund um das Trauerkaleidoskop finden. Diese Materialsammlung werde ich Stück für Stück ergänzen.

Mehr Informationen

Für „Wir leben mit meiner Trauer“ habe ich einen ausführlichen Infoteil eingefügt mit Informationen über Trauer und Unterstützung und über die verschiedenen Rollen, in denen wir Trauernden in unserem Privatleben begegnen. Es ist gibt Unterschiede in dem was ich tun kann, ob ich als Mutter meiner trauernden Tochter gegenüberstehe oder als bester Freund meinem langjährigen Kumpel.

Wie kann mir Ihr Buch „ich lebe mit meiner Trauer“ helfen, wenn ich selbst trauere?

Der Titel drückt genau aus, was ich vermitteln möchte: Ich lebe mit meiner Trauer. Ich ermutige Trauernde, nicht gegen die Trauer anzuleben, sie müssen sich meiner Ansicht nach nicht schämen oder verstecken. Und in meiner Sicht auf Trauer muss sie auch nicht zuende gehen. Trauern kann ein Teil des Lebens sein, ohne dieses Leben zu zerstören! Für manche hört sich das unmöglich an, aber in meinen zwanzig Jahren der Arbeit mit anderen Trauernden und auch auf meinen eigenen Trauerwegen habe ich so viele kleine Wunder erlebt, dass ich Trauer als einen veränderlichen und lebenszugewandten Prozess verstanden habe. Damit er das sein kann, braucht es jede Menge Unterstützung. Und heute finden viele Menschen Unterstützung in Büchern.

Reiseführer

Ich lebe mit meiner Trauer ist eine von vielen möglichen Formen der Trauerhilfe. Ich sehe das Buch als einen sehr detaillierten Reiseführer in viele Bereiche des Trauerweges. Trauernde finden sich an vielen Stellen in den Kapiteln und in den Berichten von Betroffenen wieder. Sie finden Worte für ihre Gefühle und Gedanken, das stärkt und tröstet. Die vielen möglichen Stolpersteine, die den Weg noch schwerer machen können, erkläre ich, denn Verstehen hilft, um sich selbst besser einzuschätzen und freundlicher mit sich selbst umzugehen. Darüber hinaus zeige ich eine Vielzahl von Trittsteinen als Anregung: das können Übungen sein, die man für sich allein macht oder Gesprächsmöglichkeiten mit anderen und auch fachliche Unterstützung. Da ich die einzelnen Trauerfacetten so gründlich beleuchte, sind immer wieder auch Trauerreaktionen beschrieben, die man nicht von sich selbst, aber von anderen kennt. Das ist eine große Unterstützung für Trauer in der Familie und im Freundeskreis, denn es hilft auch, andere zu verstehen. Eine der ersten Leserinnen sagte – das Buch ist wie eine Beratungsstunde nur für mich, die ich jederzeit aufsuchen kann. Eine andere meinte – das ist wirklich anders als andere Trauerbücher, so viele neue Ideen.

Wer sollte das Buch „Wir leben mit deiner Trauer“ lesen?

Menschen, die andere in einer Lebenskrise unterstützen, sind auf eine gewisse Art unsichtbar. Es gibt viele Fragen nach dem, der die Krise hat. Wenige fragen – wie geht es dir als Unterstützer denn damit? Für diese nahen Freunde und Angehörigen von Freunden wollte ich ein eigenes Selbsthilfebuch schreiben. Es sollte intimer und detaillierter sein als mein Buch Keine Angst vor fremden Tränen, das bereits viele Informationen und Tipps für den Umgang mit Trauerden gibt. Es war sehr interessant für mich, mich so intensiv mit der Situation der Mit-Menschen von Trauernden zu beschäftigen. Ihnen die einzelnen Trauerfacetten zu erklären und ihre ganz besondere Situation dabei in den Mittelpunkt zu stellen, hat mir tatsächlich noch mal neue Erkenntnisse über Trauer gebracht. Das Buch Wir leben mit deiner Trauer könnte an einigen Stellen auch Wir leben mit unserer Trauer heißen, denn es sind ja ganze Familien und Freundeskreise in Trauer. Die Rollen können da immer wieder wechseln, mal unterstützt die Tochter ihre verwitwete Mutter, dann wieder versucht die Mutter, für ihre Kinder da zu sein, deren Vater gestorben ist. Das ist ein komplizierter Balanceakt.

Verstehen

Das Buch behandelt die Liebe und Verbundenheit mit dem trauernden Menschen in seiner Lebenskrise und macht manches Verhalten, das rätselhaft erscheint, verständlich. Es nimmt die Sorgen, der Trauernde könnte verrückt oder krank sein. Die privaten UnterstützerInnen können es benutzen, um sich gesehen und verstanden zu fühlen. Sie können damit ihre Erschöpfung besser einordnen und sich ermutigt fühlen, manche Grenzen zu setzen. Es ist das Buch für sie. Und das andere ist für den trauernden Menschen. So hat jeder einen eigenen geschriebenen Wegbegleiter. Das ist aus meiner Sicht wichtig für diesen mutigen aber auch anstrengenden Weg des gemeinsamen Weiterlebens.

Auch in Ihrem Buch für Suizidhinterbliebene „Warum hast du uns das angetan“ spielt das TrauerKaleidoskop eine wichtige Rolle. Was ist das Besondere an diesem Buch?

Suizidhinterbliebene liegen mit sehr am Herzen, weil ich selbst vor über dreißig Jahren meine Freundin und Partnerin durch ihren Suizid verloren habe. Das Buch „Warum hast du uns das angetan“ kam 1998 das erste Mal in die Buchhandlungen und hat seither viele Auflagen erlebt. Fast auf jeder Veranstaltung spricht mich jemand auf dieses Buch an und erzählt, dass es in einer sehr schweren Zeit Halt und Trost gegeben hat, das berührt mich immer sehr. Deshalb war es mir auch so wichtig, es auf den neuesten Stand meiner Erkenntnisse und Erfahrungen zu bringen. Deshalb ist es 2018 komplett überarbeitet und ergänzt neu herausgekommen mit der Struktur des Trauerkaleidoskops und vielen Übungen.

Sie sprechen nicht nur von Trauer-, sondern auch von Krisenbewältigung und Ressourcenaktivierung – wie kann mir dafür der durchlebte Trauerprozess helfen?

Trauer zu durchleben, kann anstrengend wie ein Marathonlauf sein. Niemand schafft es, solche kräftezehrenden Wege zu gehen, ohne sich mit den eigenen Ressourcen zu verbinden. Ressourcen sind dabei alle Fähigkeiten, die ein Mensch im Lauf seines Lebens erworben hat. Sportliche Trauernde finden in Ihrer jeweiligen Sportart ein Ventil für Wut und Schmerz, aber auch etwas, was den Tag strukturiert. Wer schon immer ein Tagebuch geführt hat, kann sich den Schmerz von der Seele schreiben und beim Zurückblättern beobachten, wie sich die Trauer verändert. Menschen, die schon vor dem Tod eines nahen Menschen mit Entspannungs- oder Atemübungen vertraut sind, können ihre aufgebrachten Gedanken und Gefühle ein bisschen beruhigen. All das sind nur kleine Oasen, aber ohne sie kann der Trauerweg zu einer krankmachenden Überforderung werden. Eine der wichtigsten Ressourcen sind andere Menschen. Ich erlebe an meinen Klienten immer wieder, dass auch schwerste Schicksalsschläge überlebt werden können, wenn Familien im Trauerprozess zusammenhalten, Partner sich aneinander festhalten können und Freunde unermüdlich, auch über Jahre Beistand leisten.

Warum ist es wichtig und hilfreich, sich auf den Trauerprozess einzulassen?

Meiner Erfahrung nach wird immer ein Trauerprozess ausgelöst, wenn wir jemanden verlieren, der uns viel bedeutet hat. Das ist sozusagen ein automatisches Programm in uns. Dieses Programm besteht aus vielen einzelnen Sequenzen und Erfahrungen, die habe ich in den sechs Trauerfacetten benannt. Die sind für jeden einzelnen Menschen unterschiedlich wichtig oder unterschiedlich möglich. Wenn Menschen angeblich nicht trauern, sind sie meiner Meinung nach ganz intensiv mit der Trauerfacette Überleben beschäftigt. Ohne das eigene Überleben zu sichern, kann man sich den Anstrengungen eines Trauerweges gar nicht stellen, deshalb gibt es trauernde Menschen, die sich aus Angst vor dem Zusammenbrechen oder Verrücktwerden intensiv ablenken. Andere sind für das Überleben ihrer Kinder, einer Firma oder pflegebedürftiger Angehöriger verantwortlich. Das stellen sie in den Vordergrund, oft ohne das bewußt zu entscheiden, es passiert. Damit geraten die anderen Facetten des Trauerns in den Hintergrund – aus wichtigen Gründen. Aber auf Dauer lassen sich die übrigen Facetten nicht unterdrücken. Vor allem die Facette der Gefühle reagiert heftig, wenn sie nicht ausgedrückt werden kann. Der Seelen-Schmerz verwandelt sich dann in Körperschmerz und macht das Leben noch schwerer. Es gibt etliche Untersuchungen, die belegen, dass die dauerhafte Unterdrückung von Seelenschmerz den Körper krank machen kann. Auch auf der Facette des „Einordnens“ kann etwas geschehen, was das Weiterleben einschränkt. Tiefe Verbitterung und anhaltende Hoffnungslosigkeit oder große Angst vor neuen Bindungen und dem Leben überhaupt können die gedankliche Antwort auf Schicksalsschläge sein. Deshalb ist es so wichtig, den Trauerweg nicht nur zu akzeptieren, denn er ist ohnehin da und braucht automatisch Kraft, das lässt sich auf Dauer nicht verhindern.

Aktive Auseinandersetzung

Ich plädiere auch dafür, sich aktiv und bewusst mit den verschiedenen Facetten des Trauerns auseinanderzusetzen. Viele Menschen machen das sozusagen automatisch, die erkennen sich in dem Modell wieder, auch wenn sie keine Unterstützung brauchen. Aber am wichtigsten ist es für Menschen, die auf einzelnen Facetten lebensfeindliche Wege einschlagen oder schlicht nicht wissen, wie sie mit den Erfahrungen dort umgehen können. Die finden in den Büchern Erklärungen für das, was sie erleben und Anregungen, wie sie allein, mit ihren Freunden oder auch mithilfe von fachlichen Unterstützern ein Stück weitergehen können.

Es heißt immer, die Zeit heile alle Wunden – stimmt das wirklich?

Das ist eine der Spruchweisheiten, die Trauernde nicht leiden können. Ich habe erlebt, dass Menschen in Trauer das Vergehen der Zeit eher negativ wahrnehmen – da geht alles weiter, aber die innere Welt ist stehengeblieben. Nach Jahrzehnten sagen sie dann: Trauer geht nie ganz vorbei! Das liegt daran, dass Trauer keine heilende Wunde ist, sondern ein vielfältiger Prozess, der das Leben begleitet. Für die meisten Menschen werden die Wechsel spätestens im dritten und vierten Trauerjahr langsamer, es kommt wieder mehr Stabilität in den Alltag und in die Gedanken. Auf der Facette der Gefühle sind Schmerz und Verzweiflung nicht mehr so stark im Vordergrund wie zu Beginn. Auf der Facette des Verbundenbleibens treten positive Erinnerungen in den Vordergrund und es gelingt oft, die Verbundenheit mit dem Verstorbenen neben die Verbundenheit mit den Lebenden zu setzen, so dass die beiden sich sogar gegenseitig bereichern.